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Schönes Niemandsland

Gedankenspiele und Gedichte - Gesammelte Werke II

Erschienen am 16.09.2006
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446207844
Sprache: Deutsch
Umfang: 512 S., 1 s/w Illustr., 1 Illustr.
Format (T/L/B): 3.5 x 20.9 x 13.9 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Im Anfang war das Huhn. Mit dieser und vielen anderen, ähnlich verfänglichen Feststellungen in seiner "Allseitigen Beschreibung der Welt" wurde Ludwig Harig 1972 einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Als Poet bleibt Harig dem Klang der Wörter treu, und der formalen Strenge: seine Lieblings-Gedichtform wird das Sonett. Der Band enthält die zwischen 1972 und 1997 erschienenen Gedichtbände "Pfaffenweiler Blei", "Sieben Menschen", "Menschen, Tiere, Sensationen" sowie eine große Abteilung verstreuter Gedichte aus fünf Jahrzehnten.

Autorenportrait

Ludwig Harig, am 18. Juli 1927 in Sulzbach/Saar geboren, starb am 5. Mai 2018 ebenda. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heinrich-Böll-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis; außerdem war Harig Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Leseprobe

Es bleibt offen, was bei der individuellen Entwicklung eines prinziplosen und unordentlichen Menschen zuerst kommt: das Huhn des Unvermögens oder das Ei der Überzeugung. Ulf Lukan Im Anfang war das Huhn. Diese Behauptung beruht auf einer Tatsache. Da die Welt die Gesamtheit der Tatsachen ist, zerfällt sie folglich in Einzeltatsachen. Das Huhn ist eine solche Einzeltatsache, und zwar die erste. Die Behauptung jedoch, diese erste Einzeltatsache sei das Huhn gewesen, ist nicht darin begründet, daß der liebe Gott das Huhn geschaffen und nicht etwa ein Ei gelegt hat, sondern ist darin begründet, daß ich es sage. Indem ich aber sage: Im Anfang war das Huhn, habe ich selber eine Tatsache geschaffen, und zwar die Tatsache, daß ich gesagt habe, im Anfang sei das Huhn gewesen. So beruht diese Behauptung nicht nur auf einer Tatsache, sondern ist eine Tatsache. Nun gibt es andere, die behaupten, im Anfang sei nicht das Huhn, sondern das Ei gewesen; und diese anderen begründen ihre Behauptung auch nicht auf der Tatsache, daß der liebe Gott, bevor das Huhn geschlüpft war, so etwas wie ein Ei gewesen sein mußte, sondern begründen sie gleichfallls darin, daß sie es sagen, so daß ihre Behauptung auch eine Tatsache ist. Schließlich gibt es wieder andere, die behaupten, daß sie es nicht wüßten und niemand es überhaupt wissen könne, ob im Anfang das Huhn oder das Ei gewesen ist, und ihre Behauptung natürlich nicht begründen können, weil sie ja gar nichts sagen. Diese letzteren sind die Schlauberger. Ich will nicht behaupten, daß es ihnen an Mut gebricht, sich für das Huhn oder für das Ei zu entscheiden, aber irgendwie sitzt bei ihnen jene sokratische Weisheit fest, sie wüßten, daß sie nichts wüßten, was aber nichts anderes als ein vorgegebenes Nichtwissen vor lauter Wissen ist. Wenn nun der Brahmane sagt: Wer nichts weiß und nicht weiß, daß er nichts weiß, den fliehe; wer aber nichts weiß und weiß, daß er nichts weiß, den belehre, so sind alle diese Schlau­ berger aufgerufen, meine Belehrungen zu lernen, die mit der Behauptung beginnen, im Anfang sei das Huhn gewesen. Und da der Brahmane fortfährt und sagt: Wer etwas weiß und nicht weiß, daß er etwas weiß, dem sage es; wer aber etwas weiß und weiß, daß er etwas weiß, dem folge, so sind die Schlauberger aufgerufen, meinen Belehrungen, wenn sie sie gelernt haben, auch zu folgen. Aus all dem geht hervor, daß mir selbst die entschiedenen Hühner- oder Eieranhänger lieber sind als diese sokratischen Schlauberger. Die stehen nämlich da, zwischen Wachen und Träumen, Fische ohne Gräten und Fleisch ohne Knochen, nicht gehauen und nicht gestochen, keine Jungen und keine Mädchen, weder Fisch noch Fleisch, nichts Halbes und nichts Ganzes und zeigen aus Nichtwissen vor lauter Wissen kein Interesse. Indem ich aber sage: Im Anfang war das Huhn, tue ich ein Interesse kund, so wie ein anderer sein Interesse kund tut, wenn er sagt, im Anfang sei das Ei gewesen. Hühner- und Eieranhänger sind immer bei der Sache, sie öffnen ihre Augen, sie spitzen ihre Ohren, sie sind ganz Auge und Ohr, sie sind auf Draht, bei ihnen hat's gefunkt. Aber was ist das für ein Interesse, das sich am Huhn und nicht am Ei, und was ist das für ein Interesse, das sich am Ei und nicht am Huhn zeigt? Welches Wohlgefallen erregt das Huhn, das ich begehren möchte, und welches Wohlgefallen erregt das Ei, nach dem das Trachten eines andern steht? Dieses Interesse kann in zwei verschiedenen Arten auftreten, entweder als ein praktisches oder ein pathologisches Interesse. So gibt es ein praktisches Interesse am Huhn und ein pathologisches Interesse am Ei, und es gibt ein pathologisches Interesse am Huhn und ein praktisches Interesse am Ei. Nun schließt aber ein praktisches Interesse am Huhn nicht ein pathologisches Interesse am Ei ein, während ein pathologisches Interesse am Huhn nicht ein praktisches Interesse am Ei einschließt, ebensowenig wie ein praktisches Interesse am Huhn ein pathologisches Interesse am Ei und wie ein path Leseprobe