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'Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch besiegt sein muß'

Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland, Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 29

Erschienen am 25.01.2017, 1. Auflage 2016
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593506241
Sprache: Deutsch
Umfang: 466 S.
Format (T/L/B): 3 x 21.5 x 15 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Was und von wem wurde mit wissenschaftlichem Anspruch während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts über Antisemitismus in Deutschland gearbeitet und geschrieben? Welche Ansätze bot die frühe Antisemitismusforschung? Das sind die Leitfragen dieser Studie, die ein Stück Kulturund Wissenschaftsgeschichte zugleich bietet. Darüber hinaus schlägt das Buch einen Bogen zur Geschichte des Abwehrkampfs gegen den Antisemitismus bis 1933. Das Fazit: Bereits in der Weimarer Republik existierte ein tiefergehendes Wissen über den Antisemitismus, das jedoch für den Abwehrkampf gegen antisemitische und völkische Bewegungen wenig Perspektiven bieten konnte.

Autorenportrait

Franziska Krah promovierte am Lehrstuhl für deutsch-jüdische Geschichte der Universität Potsdam.

Leseprobe

I. Einleitung Im Sommer 1924 schrieb der Philosoph Constantin Brunner einen Essay, in dem er den Judenhass als Ungeheuer bezeichnete, das wenigstens theoretisch besiegt werden müsse. Der Text trägt die Überschrift "Das Unglück unsres deutschen Volkes und unsre >Völkischen<" und behandelt die antisemitische Bewegung im zeitgenössischen Deutschland. Der in Potsdam lebende Brunner deutete darin an, dass er von den Angriffen der "Völkischen" selbst betroffen war. Als offensiver Kritiker des Antisemitismus, überdies mit jüdischem Hintergrund, war er ihnen ein Dorn im Auge. Brunner beschäftigte sich spätestens seit der Jahrhundertwende mit dem Antisemitismus und brachte 1918 eine Abhandlung heraus, in der er seine Ursachen, Funktionen und Anziehungskraft beleuchtete. Neben ihm setzten sich seinerzeit auch andere Autoren auf theoretischer Ebene mit der Thematik auseinander. Mit dem Anspruch auf Objektivität versuchten sie sich in einer Analyse und Kritik des Antisemitismus, um dem Rätsel dieses irrationalen Phänomens in einer vermeintlich aufgeklärten Zeit auf die Spur zu kommen. Aus den daraus hervorgegangenen Schriften lässt sich eine gewisse Resignation herauslesen, sobald die Frage nach wirksamen Gegenstrategien gestellt wurde. Die Autoren machten die Erfahrung, dass sich der Antisemitismus weitgehend resistent gegen Aufklärungsversuche verhielt. Brunners Credo, dass man ihn aber wenigstens durch eine kritische Analyse entlarven und damit gewissermaßen theoretisch besiegen müsse, kann deshalb als charakteristisch für die Intention der Schriften seiner Zeit angesehen werden. Die aus dieser theoretischen Beschäftigung stammenden Schriften in deutscher Sprache, die ich wegen ihres formalen und inhaltlichen Anspruchs als Antisemitismusforschung bezeichnen möchte, bilden den zentralen Gegenstand der vorliegenden Studie. Ihr Hauptziel ist es, eine Übersicht über die Erklärungsansätze zu geben, die vor 1933 entstanden und durch diverse deutsche Verlage verbreitet worden sind - bevor der Antisemitismus mit der nationalsozialistischen Machtübernahme zum Staatsprogramm erhoben und damit verstärkt gesellschaftlich bedeutsam wurde. Dabei interessieren weniger die damals tagesaktuellen, auf bestimmte Ereignisse oder Personen bezogenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, sondern die analytischen und tiefgründigen Darstellungen. Als Startpunkt einer mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Antisemitismusforschung gilt eine Dissertationsschrift von 1901 über Das Wesen des Antisemitismus. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der Zeit der Weimarer Republik, da damals die meisten Analysen erschienen. Der Begriff "Antisemitismus" wird in der vorliegenden Untersuchung zeitlich eng gefasst. Es ist damit die spezifische Form gemeint, die seit dem 19. Jahrhundert im Zuge der Emanzipation der Juden entstanden ist und als moderner Antisemitismus bezeichnet werden kann. Im Fokus stehen demnach nicht die Erklärungsansätze für die mittelalterliche Judenfeindschaft, sondern Interpretationen des zeitgenössischen Antisemitismus, den die Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst erlebten. Häufig war er mit pseudowissenschaftlichen Rassentheorien verknüpft und von religiös motivierten Vorwürfen weitgehend losgelöst. Wie aber zu zeigen sein wird, waren zugleich auch andere Spielarten virulent. Eine weitere, auf den Inhalt bezogene Abgrenzung des Begriffs soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Die damaligen Antisemitismusforscher boten hierfür eigene und zuweilen ganz unterschiedliche Deutungen an. Historischer Hintergrund Das antisemitische Treiben stieß von Anfang an auf offene Kritik, schließlich entwickelte sich der Antisemitismus Reinhard Rürup zufolge als Protestbewegung gegen die Ideen von 1789 und somit gegen die liberale Staats- und Gesellschaftsordnung. Diese Bewegung griff die jüdische Bevölkerung als Vertreter der modernen Entwicklung an. Es schien also naheliegend, dass sich die liberal-demokratischen Kräfte als Gegner des An